Jacintho Tepel für Galerie Norbert Arns, Köln, 2019
French Rubbing Trance Bleeding
Oh weh, das Zentrum wurde leergefegt! Dabei wirkt es eigentlich einfach nur sauber, diese Art von sauber, welche man heute „clean“ nennt. Es ist erstaunlich, was aus den kleinen Geschäften wurde - welche überlebten, welche verschwanden. Traurig harren die einstigen Prunkbauten der Kaufhäuser einer neuen Verwendung. Doch die Zeit verlangt nun nach mittelgroßen Geschäften in denen ein Portfolio von Marken präsentiert wird oder eine Marke sich selbst zelebriert - sie kennen diese Klage verehrter Leser, ja, in allen Städten, die selben Marken.
Sie ahnen es bereits, der Autor versucht sich an einer kulturkritischen Allegorie. Etwas zickig könnte er auf noch bestehende regionale Unterschiede hinweisen, auf die Menge dessen was man im Angebot deutscher Städte von der Marke „Die Brücke“ finden kann, aber kaum was von… Doch diese Besonderheit bestärkt nur auf den Eindruck, daß hierzulande der Kunstkanon, insbesondere jener der Moderne, strikt eingegrenzt ist. Museen wie das D’Orsay im Paris oder das Musée Fin-de-Siècle in Brüssel sind hier undenkbar. Eher in kleinen Museen entdeckt man ab und an verwirrend aufregendes. Als in den USA und Deutschland während der 50er und 60er die Geschichte der Moderne neu geregelt wurde und der haltlose Begriff des Kitsches als effizienter Kehrbesen fungierte, war man in Frankreich gnädiger. Vielleicht aufgrund des Nachhalls de Sades Denkens in der Psychoanalyse, im Symbolismus, Surrealismus und wie es über Georges Batailles Ideenwelt dann die frühe Postmoderne prägte. Doch auch die Postmoderne ist längst sauber leergefegt.Muss ich es noch erwähnen? - Die Maltechniken sind es offensichtlich ebenfalls. Dabei korreliert der Eindruck, daß alles bereits probiert wurde, mit dem Befund einer gewissen Stilarmut auf heutigen Leinwänden. Robert Kraiss arbeitet fern dieser, ja keineswegs zwingenden Korrelation. Wobei man seine Arbeitsweise nicht alleine als Mal- oder Zeichentechnik verstehen mag, sondern zugleich als Kommentar der Malerei, des Akts des Zeichnens, der Bilder und ihrer Reproduktion. Die Komplexität seiner Bildsprache scheint den wissenden Betrachter zu fordern. Aber ebenso öffnet sie sich der persönlichen Interpretation - wenngleich still widerstrebend. Doch blicken wir in einer seiner aktuellen Arbeiten auf den Künstler als Conan der Barbar, so scheint es, als ob sich Robert Kraiss’ Kunst eigentlich auf diese Interpretationen freue.
Die neuen Werke haben ihren Beginn in kleinen Zeichnungen, solche, wie er sie des Abends im Kreis der Familie anfertigen kann, ohne sich ins Atelier abzusetzen. Hier kamen auch die Motive, welche wir nun in vergrößerter Form sehen, ins Spiel. Sie berichten von von jenen Vergessenen der Moderne, den viel zu Unanständigen, als daß die Hohe Kunst sie länger in ihrem Haus hätte ertragen wollen. Und heute? Schmückten ihre Werke in den frühen 80ern noch Buchhüllen postmodern feministischer oder an den Mysterien der Sehnsüchte oder der Körperlichkeit interessierten Literatur, so gelten diese unanständigen Künstler heute als problematisch: Werden in ihren Werken nicht Frauen zu Objekten der Betrachtung?
Schlecht erging es besonders entsprechenden Künstlerinnen, die sich im 20ten Jahrhundert in einer noch komplett von Männern dominierten Szene durchsetzten. Heute stehen ihnen ihre Sujets der Befreiung im Weg. Die Malerin und Literatin Leonor Fini wird, wenn überhaupt, im „Museum of Sex“ gewürdigt, Jane Gravenol schaffte es auf die Hüllen von Science Fiction Büchern, die Kunstgeschichte murmelt abfällig was von „Magritte Adeptin“, Leonora Carrington bleibt die Frau an der Seite von Max Ernst, es finden sich immer Gründe und nur wenige, die widersprechen. Und von als handwerklich ungeschickt und thematisch verkitscht geltenden Malern wie Clovis Trouille lässt der Kurator besser die Finger.
Aber bei diesen - mittlerweile - Aussenseitern der Moderne findet sich etwas, das den Blick des Künstlers interessiert, wo die Komposition nicht den ungeschriebenen Regeln gehorcht, die Farbwahl verblüfft oder ungewohnte Linienführung inspiriert. Und dann? Man könnte es als sein Eigentum ausgeben, dies passiert auch oft genug. Doch Robert Kraiss’ Werk entsteht zwischen Verweis, technischer Herausforderung und Distanzierung. Hier wird auch klar, daß eine Abbildung unweigerlich einen Objektcharakter haben muss. Und dann kommt dieses Objekt an den Betrachter heran.
Und wen erblicken wir? - Auch jenseits der bekannten Unterstellung, daß alle Portraits letztlich Selbstportraits seien, ist diesmal der Künstler sehr präsent, wenn auch auf eine Weise, die ihn entweder wie einen nicht zur Gänze motivierten Schauspieler zeigen oder in der dekadenten Perspektive als jemanden, der etwas verblüfft in den Bildraum tapperte und die dort auf ihn wartende Rolle schlafwandlerisch, ja gleich in Trance annimmt. Wird es gut enden?Auch in dieser Perspektive erleben wir in den Werken ein spannungsvolles Hin und Her aus Unmittelbarkeit und Distanz. Entstanden die Sujets gar auch in der Art einer Écriture automatique? Oder sind sie nicht doch vielmehr kalkulierter Fingerzeig auf die Technik, gleich einem Essay über Darstellung, derweil die Objekte nur im Sinn des Betrachters ihr Eigenleben beginnen. Oder ist auch dieses Eigenleben gesteuert? Man könnte solche Vermutungen auch sofort wieder mit dem Vorwurf der Überinterpretation an die Leine nehmen: „Nun mal nicht ganz so unmittelbar, Betrachter!“, sagen die dann. Ein Blick fällt bei Kraiss jedoch stets auf die eigentlich unmotiviert wirkenden Bereiche, die Flächen, welche er in seinen kleinen Zeichnungen mit dem Radiergummi bearbeitet und die in seinen großen Werken letztlich den besten Einblick auf seine dort angewandte Technik geben: Jene mit rotierenden Stiften geschaffene, unruhige post impressionistische und auch technische Gleichmäßigkeit. Nicht wenige Betrachter vermuteten in diesen Flächen eine psychedelische Qualität, ein Flirren welches in aller Gleichmässigkeit des Auftrags aus der Fläche in eine imaginierte oder sinnbefreit wirksame Wahrnehmungswelt strebt. Für einige Tage wird nun diese Welt gegenüber dem Ausstellungsraum der Galerie Norbert Arns in einer ehemaligen Textilreinigung realisiert:
Mozambique Primal Scream
Alles was als ein Zu Viel aus den künstlerischen Erwägungen verschwindet, kommt hier zum Einsatz. Die Fussohlen fühlen den Untergrund, Musik schallt aus Kopfhörern und eine 3D Brille erwirkt jenen geahnten Effekt in Robert Kraiss Malweise: es stülpt sich die dritte Dimension aus der Fläche.
Was berichtet dieses unverfrorene Sinnlichkeit von der Distanz? Wagen und Vermeiden im steten Pendeln ist ein Kriterium aktueller Kunst. „Dies und das geht nicht weil…“ - so lauten durchaus nachvollziehbare künstlerische Erwägungen. Gedankentürme, als vielgliederiges System aus der offensichtlich problematischen Frage nach dem Bild. Ein Bild, welches nur noch von den alten Aussenseitern belebt wird, sich an den Rändern nährt und dem Betrachter einiges abverlangt. Doch halb resümierend sagt Robert Kraiss in einem Interview mit sich selbst: „Ist das alles nicht nur ein Vorwand für eine letztendlich ziemlich expressive individuelle Tätigkeit?“
Seine Selbstgespräche im Bildraum wie im physischen Raum zu erleben, bleibt ein Abenteuer. Und Abenteuer sind längst schon etwas rares in unseren cleanen Städten.
Jacintho Tepel
Oliver Tepel für Galerie Norbert Arns, Köln, 2018
Auf der Reise
Terra Incognita! Einst ein Funkeln in den Augen Wagemutiger. Was so funkelt, entsagt gern Maß und Vernunft, die Entdecker neuer Welten, sie spielten mit ihrem Leben. Doch machen wir uns nichts vor, diese Zeiten sind vorüber. Der Mensch ist auf dem Erdball bereits überall gewesen, hat ihn erkundet, ausgemessen und dabei seine eigenen Heldengeschichten geschrieben.
Als Robert Kraiss 2011 eine eigene Reise in seinem Buch „The stinking and the perfumed elephant“ skizziert, betritt er kein wirklich unerkanntes Land. Selbst die entlegenste Fremde erwartet uns mit ihrer Geschichte, der man sich unwillkürlich zu stellen hat. Um diese Geschichten herum rankt sich, was selbst auf dem gänzlich durchforschten Planeten immer noch das große Abenteuer, die Reise zu einem komplett Ungewissen versprach: die Kunst.
Nicht immer war ihr jenes neue Terrain geheuer. Noch recht früh in der auftrumpfenden Moderne nennt Charles Baudelaire sein Tun „Plaisanteries Contre Le Progrès“, Scherze aber auch Streiche gegen den Fortschritt. Im Experimentierfeld, welches die Moderne in der Kunst fand, nahm Baudelaire dennoch seinen Platz, keineswegs explizit im Namen des Fortschritts, aber doch mit einem forschenden Blick auf die Sprache und den Menschen. Die Lichter der Großstadt Paris, Zentrum neuer Entwürfe, illuminieren manche seiner Gedichte, das neue Leben in der alten Sprache.
Mehr als ein Jahrhundert später, die Moderne ist vollendet, beschreibt ein junger britischer Sänger namens Momus die Sammlung scharfsinnig ironischer und doch schmerzvoller Neuinterpretationen biblischer Szenerien, welche sein erstes Album füllen als „the Old Testament to the new instruments“. Dabei dominiert die akustische Gitarre und nicht etwa der digitale Synthesizer seine Songs. Wenn Robert Kraiss mit undogmatischem, neuem Instrumentarium (präzise: mit einem Bohrschrauber) Stilistiken, ja komplette Werke der Vorkriegsmoderne neu interpretiert, forscht er zugleich auf bekanntem Territorium. Diese Struktur funktioniert auch in die andere Richtung, Skulpturen, an die organischere Version der modernen Abstraktion erinnernd, entstehen auf die anachronistischste Weise schöpferischer Formgebung: als Flechtwerk, warmes, günstiges Material statt ehrfurchtgebietender Bronze oder kaltem Beton.
Was die alten Instrumente in der neuen Form oder die neuen Instrumente in den alten Werken finden, sind rhythmische Wiederholungen, keine ewige Wiederkehr, sondern vibrierende Akzentuierungen, die einen als Augen Redonscher Zyklopen anstarren oder als Variante von Picabias phallischen Provokationen erscheinen. Wichtig ist nur, dass sie erscheinen, da sind und sich längst schon der unmittelbaren Verständlichkeit entzogen haben. So sind Kraiss Arbeiten auch Neuschöpfungen aus einer vergangenen Kultur, experimentelle Archäologie und verliebtes Echo in einem. In einem steten Pendeln zwischen der unmittelbaren Nähe und der unerklärlichen Ferne fixieren sie den aktuellen Moment. Den aktuellen Moment? – Ja, unsere Zeit, welche ihre eigenen Zeichen vergisst und doch keine wirklich neue Sprache zu finden vermag. Mitunter erinnern Kraiss’ Werke an pointillistische Auflösungen. Aber ob wir die Dinge nicht mehr, oder noch nicht klar sehen, bleibt unserer Interpretation überlassen.
Kraiss beobachtet allerdings – und diese Vorstellung macht mich, während ich dies hier schreibe, etwas bange – nicht in erster Linie die Kunst der Vergangenheit. In stiller Aufmerksamkeit ruht sein Blick auf uns. Er sieht uns! Terra Incognita oder nur allzu bekanntes Terrain?
Artothek, Köln, 2017
“Robert Kraiss zeigt in seiner Ausstellung „Diana und Aktaion“ in der artothek – Raum für junge Kunst Buntstiftzeichnungen und Korbskulpturen.
Weit entfernt von allem, was man üblicher Weise mit Buntstiftzeichnung verbindet, schafft Robert Kraiss verdichtete, fabelhafte Bildwelten. Maschinell verstärkt bearbeitet er den Bildträger beim Farbauftrag bis hin zur beginnenden Zerstörung. Zeichen und Objekte entstehen aus einem schillernden Farbspektrum, das sich Schicht um Schicht zu einem Farbraum verbindet. Die assoziative Einbeziehung von Mythen, Astrologie und Zitaten der Bildenden Kunst öffnen den Weg in eine vordergründig bekannte Bildwelt, nehmen den Betrachter mit und lassen ihn kurz danach auch schon wieder mit vielen Fragen alleine. Wie notwendig oder überflüssig sind die erzählerischen Momente? Distanzierte Betrachtung oder Eintauchen in Atmosphäre?
Der antike Mythos von „Diana und Aktaion“ scheint eine mögliche Deutungsebene zu den Bildern zu bieten, stellt diese Notwendigkeit jedoch auch ironisierend in Frage. Für den Künstler bleibt die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen bilderzählerischer Formen im Spannungsfeld zu den Fragen abstrakter Malerei. So konkret manche Formen sichtbar sind, so malerisch flirrend entledigen sie sich ihrer narrativen Bezüge.
Auch die amorphen Formen der ausgestellten Skulpturen flimmern durch Rot-Grün-Kontrast, lösen dabei ihre Konturen auf, können Falle oder Phallus sein. Das rotierend Wirbelnde, das bei Robert Kraiss bereits früher für Meditation, Versenkung oder Ekstase stand, ist auch in diesen Werken wieder präsent: Verflochtene Strichstrukturen entstehen durch die Montage der Stifte auf einem sich drehenden Bohraufsatz und ebenso windet sich das Rattangeflecht der Skulpturen spiralförmig zur Form.”
Susanne Burmester, Neuenkirchen, 2016
Das unironischste Rot
Robert Kraiss arbeitet im künstlerischen Spannungsfeld von individuellem Ausdruck und Konzept. Die Ausstellung im CIRCUS EINS stellt den in Köln lebenden Künstler mit Zeichnungen und Skulpturen erstmals umfassend auf Rügen vor.
Ein sich drehender Brummkreisel macht Lärm – doch erzeugt Leere, denn in der Bewegung wird er unsichtbar. Auch Robert Kraiss spannt seine Buntstifte nicht in den Akkuschrauber, um viel Lärm um den eigenen Status machen. Mit Schnelligkeit überwindet Kraiss den hypochondrischen Zustand als Künstler und macht sich frei für die Empfängnis von Bildern, die intensiv sind und magisch, subjektiv und sperrig.
Die Leere, die er durch diese und andere Distanzierungsverfahren erzeugt, ist reichhaltig und rätselhaft. Durch die Anhäufung von Gegensätzen und ironischen Irrläufern entsteht eine Art paradoxes Gewebe. Die Arbeiten sind beides, sehr distanziert und sehr persönlich. Konzeptuelle Kühle trifft auf warme Haptik von sowohl Akku-Zeichnungen als auch Korbskulpturen.
Der Titel der Ausstellung ordnet die Mühe, die in der Herstellung der Bilder und Skulpturen steckt, mit einem Streich den Worten unter. Damit werden sie einer willkürlich erscheinenden Umdeutung unterworfen, die ihre Bedeutung verzerrt. Der angedeutete Sinn bestätigt sich aber kaum aus der Betrachtung der Ausstellung, sondern fungiert eher als Einladung an den Betrachter, mit seinem schlauen und beherzten Blick die Ausstellung zu vervollständigen.
„Das unironischste Rot“ ist die Reflektion der unmöglichen Situation des heutigen Künstlers. Die Heroisierung des Schöpfertums, die mit dessen Banalisierung einhergeht, die formale und inhaltliche Festlegung, die stilistische Schublade. Robert Kraiss gelingt es, den irren Parcours zu durchlaufen, ohne einen Scherbenhaufen zu hinterlassen oder selber in die Grube zu fallen.
Robert Kraiss wurde 1972 in Bonn geboren. Er hat an der Kunstakademie Düsseldorf studiert und war Meisterschüler von Georg Herold. Er hat bei Galerie Desaga, Köln und Peter Kilchmann, Zürich u.a. ausgestellt und hat an Gruppenschauen u.a. bei Isabella Bortolozzi, Berlin und in der Kunsthalle Düsseldorf teilgenommen. Zuletzt wurde er 2015 in der artothek – Raum für junge Kunst in Köln mit einer Einzelausstellung vorgestellt. Robert Kraiss erweitert seine künstlerische Arbeit durch musikalische Auftritten mit „Die Bäume“ und der „Ylmaz House Band“ sowie als Autor. Er hat aktuell einen Lehrauftrag für Zeichnung an der Universität Siegen und arbeitet außerdem als Ergotherapeut.
Außerdem wird das Video “Der Blaue Mongo” von Stefanie Popp mit Musik von Robert Kraiss und Florian Gass gezeigt.
Gregor Jansen für die Kunsthalle Düsseldorf, 2005
Misanthropie eines Philanthropen
Robert Kraiss zeichnet dekonstruierte Affen mit schönen Augen oder schönen Zähnen; achteckige Elemente oder zwei lesende Clownköpfe mit roter Nase und lustigen Schlappohren vor Schattierungen und anderen Beigaben konstruktiver Weltsicht. Zwei Personen in einem von Gitarre, Axt und allerlei Zierrat umgebenen Herz. Einen Totenkopf-Maler mit allen Klischees bestückt und eckigen Augenhöhlen; eine sich an die schönen Brüste fassende and Venus; ein melancholisch versunkener Roncalliclown hinter All Norhang?). Eine verquaste Gestalt mit lupenartigen Betonungen einzelner Körperpartien; ein Geschenk inmitten einer Rasenlicht und 4en mit Mann. All dies aber ist ein Vorwand für die Abstraktion das Formlose der unstrukturierten Gesten, wie von wahnsinniger Hand verbrochen, wilde Tachismen und frei gefeuerte, hemmungslose Informeln. Seine Bleistifte streiten sich um eine Vorherrschaft oder die Hoheit auf dem Blatt: Idee oder Form, Konzept oder Freiheit, Ordnung und Chaos, Sinn oder Verstand? Die Welt hat sich auf seinen zugestrichelten, wegradierten oder offenen Kompositionen selbst verloren, steht vereinzelt, bisweilen vermint im Zeichenfeld des kruden Unsinns von Mehrsinn. Die Zeichnung ist ein sehr altes, von vielen sogar als Ursprung der Kunst verstandenes Medium, erlangte erst im 16. Jahrhundert als Theorie des Disegno bei den Italienern eine gewisse Autonomie, zu der sich Künstler heute immer noch bekennen dürfen. Vasari beschreibt in der zweiten Ausgabe seiner »Viten« 1560, beim Disegno gehe es nicht nur um eine Idee, sondern auch um deren Umsetzung. Dementsprechend versteht er Disegno als Konkretisierung eines geistigen Entwurfs. Die Bedeutung des Begriffs wechselte vom unentschiedenen »Idee« auf der einen und >Form« aut der anderen Seite hin zu deren Synthese.
Kraiss zeichnet dies als einen Prozeß, der flirrend Weltsicht als Idee und Form verbindet. Es ist ein ironischer Prozeß der spontanen Innenwelt, ein Vexierbild des Unergründlichen, wobei es nicht ohne Belang ist, daß er ausgebildeter Ergotherapeut ist, also geübt im Umgang und Lernen von Fein- und Grobmotorik mit Kindern. Zuviel Bedeutung sollte man dem aber auch nicht beimessen, denn wir sehen schließlich unter anderen Anzeichen bedeutende, und deutlich ausbalancierte (meint: komponierte) Zeichnungen vor uns. Das Spezifische ist - um es irgendwie auf eine Formel zu bringen - ein genialer Dilettantismus, den Robert Kraiss nutzt, um verstörende bis wunderschöne Eruptionen der zum Teil gestörten, aber immer überaus sensibel wahrgenommenen Bilderund Umwelt zu generieren. Aus einer bewußten Negierung der Erwartungshaltung gegenüber der schönen und bildenden Kunst erschließt er sich über das kollektive Gedächtnis den Horizont ohne denselben und bleibt auf der Fläche wie bereits die Surrealisten, allen voran die traumhaften Frottage-Zeichnungen Max Ernsts oder der Histoire naturelle (1926). In Gemälden wäre das nie denkbar (Idee), geschweige denn sichtbar (Form).
Das Vor und Zurück des Prozesses ist wie ein Flimmern der Erkenntnis und die heitere Melancholie der Figuration bei Kraiss eine der Welt zugeneigte Akzeptanz des Saturnikers. Dies wußte schon Dürer und stach sie in ein vieldeutiges Gerümpel; die alles vernichtende Formlosigkeit der entropischen Faszination als Wissen um das Ende allen Ursprungs wußte schon Wols, und erklärte seinem Hund die Bilder. Misanthrop und Philanthrop sind somit in den Zeichnungen des Robert Kraiss auf gar abstrus bis wundersame Weise glücklich vereint. Und wenn diese dann noch aus großer Höhe herab betrachtet werden können (wie beim Akademierundgang 2005), stellt sich sogar eine ganz andere, ungeahnte Form von Genuß ein: eine räumlich präsente Größe.